Demokratisch agiles Recruiting: Wenn Mitarbeiter ihre Kollegen einstellen und entlassen

Recruiting gehört zu HR. Profis suchen, wählen und prüfen Talente. Am Ende werden sie abgelehnt, eingestellt und mitunter wieder entlassen. Doch brauch es hierfür wirklich die Personalabteilung? Oder können nicht die Teams, die den Bedarf haben, selbst entscheiden, wer zu ihnen passt?

Ich weiß nicht, welche Erfahrung Du gemacht hast. Meine bisherigen Bewerbungsgespräche vor vielen Jahren sahen folgendermaßen aus: Nachdem ich die Formalitäten erledigt hatte, indem ich meine Bewerbungsunterlagen schön ordentlich eingereicht hatte, wurde ich irgendwann zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Da saß dann – ich war im Gesundheitswesen tätig – der Chefarzt und manchmal noch mein späterer direkter Vorgesetzter. Vom Team, in dem ich später arbeiten sollte, habe ich nie jemanden gesehen. Nun mag ich mich geschmeichelt fühlen, dass die oberste Führungskraft es als Chefsache betrachtete, bei meinem Einstellungsgespräch persönlich dabei zu sein und mich auf meine Qualifikation hin zu prüfen. In den zwei Fällen meiner Anstellung in Krankenhäusern war das Ergebnis dieses Prozederes jedoch ausgesprochen gemischt: einmal hat es richtig gut gepasst, im anderen Fall hatte ich nach 6 Monaten gekündigt. Natürlich sind zwei Fälle alles andere als statistisch relevant. Aber mal andersherum betrachtet: Wie viele Recruitingprozesse kennst Du, die fundamental anders verlaufen?

Recruiting ist eine zentrale Aufgabe der Unternehmensentwicklung

Aber warum sollte das Recruiting anders verlaufen? Wir haben doch in der HR- Abteilung die studierten Expert*innen zur Personalarbeit, oder? Nun ja, es gibt so den einen oder anderen Hinweis, dass das Recruiting eben nicht so gut funktioniert, wie es sollte. Grundsätzlich gilt: Diese Aufgabe ist zentral für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung einer Organisation in allen Belangen. Durch das Recruiting wird gesteuert, wer als Angestellter durch die Grenzen der Organisation gelassen wird. Je kleiner die Organisation, um so einflussreicher wird tendenziell jeder neue Mitarbeiter, jede neue Kollegin. In großen Organisationen hat zwar der einzelne weniger Einfluss, dafür werden aber naturgemäß viel mehr Menschen als feste Mitarbeitende ins System geschleust und haben somit über ihre Masse einen großen Einfluss. Durch neue Kolleg*innen kann eine Kultur positiv stabilisiert, weiterentwickelt oder langsam aber sicher von innen zerfressen werden.

Auch in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf den Gallup Engagement Index hilfreich. Seit seiner ersten Erhebung in Deutschland 2001 hat sich am grundlegenden Verhältnis der drei erhobenen Typen nichts wesentlich geändert: In der „inneren Kündigung“ befinden sich rund 15%, „Dienst nach Vorschrift“ betreiben rund 70% und „emotional positiv gebunden“ an den Arbeitgeber sind rund 15% – das sind diejenigen, die ihre Arbeit wirklich gerne verrichten und auch als Markenbotschafter des Unternehmens auftreten. Diese seit 17 Jahren erhobene Untersuchung hat eine Menge mit der mangelnden Passung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgeber zu tun. Ganz offensichtlich versagt hier das Standard Recruiting trotz aller beschworenen Professionalität auf breiter Fläche.

Passung zwischen Bewerbern und Stellen

Das Verständnis von Passung zwischen Standardprozessen und demokratisch agilem Recruiting unterscheidet sich deutlich. Passung umfasst unserer Ansicht bei priomy nach folgende Dimensionen:

  1. Job – Bewerber
  2. Team – Bewerber
  3. Führung – Bewerber
  4. Organisationskultur – Bewerber
  5. Organisationszweck – Bewerber

Der Fokus liegt bis heute auf der Passung zu den fachlichen Anforderungen einer fixen „Stelle“ mit einem mehr oder minder klar umrissenen Profil an Aufgaben, da muss man und frau nur einen  Blick in irgendeine beliebige Stellenanzeige werfen, um diesen Fokus zu sehen. Die Passung zum Team wird, wenn überhaupt, gerne mit diversen Tests á la HPI, MBTI, Grave/Spiral Dynamics und dergleichen mehr erhoben. Ob die Bewerberin gut mit ihrem zukünftigen Chef kann, lässt sich natürlich immer dann prüfen, wenn die Vorgesetzten bei der Bewerbung anwesend sind, was häufig der Fall ist. Grundsätzlich bleibt es indes bei der gleichen Logik. Die Fachkräfte der HR- Abteilung und der jeweilige Vorgesetzte entscheiden top-down, wer die nächste Mitarbeiterin wird, während das Team wie die Kinder zu Weihnachten auf die Bescherung warten dürfen.

Wir glauben indes, dass es um wesentlich mehr geht, als diese drei ersten Dimensionen, sofern die überhaupt systematisch geprüft werden. Als besonders wichtig erscheinen uns genau die Dimensionen, die eher selten in Betracht gezogen werden: Die jeweilige Organisationskultur und der Organisationszweck. Das gilt umso mehr, je ungewöhnlicher eine Organisation die tägliche Arbeit organisiert und vollzieht. Dabei gilt: Je mehr (heterogene) Sichtweisen bei der Beurteilung der Bewerbenden in die Entscheidung einfließen, um so valider wird sie.

Teamaufgaben im demokratischen Recruiting

Wenn wir das Recruiting als eine der zentralen Aufgaben zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Organisation aus der klassischen Aufgabenverteilung herauslösen und in die Teams geben, haben Sie folgende Aufgaben zu bewältigen:

  1. Feststellung des Personalbedarfs
  2. Suche (wann, wie, wo)
  3. Bewerbung
  4. Onboarding
  5. Kriseninterventionen
  6. Entlassung

 

  1. Wer, wenn nicht die Teams selbst, können den Bedarf an Personal am besten beurteilen? Ich weiß sehr genau, was uns an personellen Ressourcen im Team noch fehlt. Meine Teamkolleg*innen und ich sind diejenigen, die täglich erleben, wo es eng wird, wo noch Luft ist und ob wir durch entsprechende Verteilung freier Arbeitsressourcen die Aufgaben gut bewältigen können oder nicht. Und je nach Grad der Selbstorganisation, wissen wir auch am besten, wo wir mit unserer Arbeit langfristig hinwollen – und können so auch strategisch neue Kolleg*innen suchen.
  2. Vielleicht hat ein Team auch noch spezifische Ideen, wann, wo und wie es das neue Teammitglied suchen will. Die einen möchten dies eventuell über eine klassische Jobbörse machen, andere über Mitarbeiter-suchen-Mitarbeiter-Programme und wieder andere durch Active Sourcing in den üblichen Karrierenetzwerken – oder aber eine Kombination daraus. Das Entscheidende: Auch der Suchprozess sollte zum Team passen, denn dadurch werden oftmals schon Weichen gestellt, wer überhaupt gefunden wird. Auf Stepstone tummeln sich andere Menschen als auf unserer kleinen Startup Jobbörse von priomy.
  3. Im eigentlichen Bewerbungsprozess gibt es verschiedene Optionen der Gestaltung. Es können, müssen aber nicht alle Teammitglieder anwesend sein, was ohnehin in den meisten Fällen schwierig würde. Vielleicht gibt es auch telefonische Vorgespräche zur Filterung bei besonders vielen Bewerbern, vielleicht ein Video Assessment und so weiter.
  4. Die Einarbeitung bedarf natürlich keiner besonderen Kommentierung, sie kann nur im Team stattfinden. Im weiteren Verlauf können dann auch Krisen durch das Team bewältigt werden – und im Zweifel externe Mediatoren dazu geholt werden.
  5. Am schwierigsten ist die Entlassung durch das Team. Aus unserer Sicht ist das allerdings ein notwendiger konsequenter Schritt. Denn wenn Teams nur einstellen, aber nicht entlassen, fehlt ihnen einen fundamentale Erfahrung an Personalentscheidungen. Sie würden nur Rosinen picken und wichtige Lernprozesse aus der zweifelsfrei immer wieder mal nötigen Trennung von unpassenden Kolleg*innen nicht nutzen können.

Einwände seitens HR

Natürlich führt der drohende Verlust einer der Kernaufgaben bisheriger HR-Abteilungen und Mitarbeiter*innen zu prompter Kritik an der Idee eines demokratischen Teamrecruitings. Im Kern ist die Kritik auf ein Argument zurückzuführen: Mangelnde Professionalität. Die Teammitglieder sind doch keine Profis in Sachen Personalarbeit. Da sitzen dann die jeweiligen Fachkräfte einer IT Abteilung, aus dem Controlling, der Produktion, dem Marketing – wie sollen die denn in der Lage sein, diesen komplexen Prozess professionell zu gestalten? Konkret kommen folgende Einwände:

  1. Die Teams sind nicht in der Lage, den echten Personalbedarf zu erkennen. Sie würden nur kurzfristige Lücken füllen wollen und können keine professionelle strategische Personalplanung durchführen. Nun denn, frage ich mich, welche Profis haben denn diese Idioten eingestellt, die zu all dem Zauberwerk nicht in der Lage oder Willens sein sollen? Denn die Teams hatten sich ja nicht selber eingestellt…
  2. Besonders überzeugend: Die Teams verfügen nicht, wenn sie nicht zufällig zur Marketingabteilung gehören, über die nötigen Hammerskills, um gute Anzeigen zu gestalten. Oh my God – wenn ich so an all die überwältigenden Layouts der Standardanzeigen denke, dann fällt mir die Kinnlade bis zum Boden. Vor allem weil viele der klassischen Stellenbörse ohnehin keine freie Gestaltung der Anzeigen ermöglichen, sondern vielmehr normierte Gestaltungen verkaufen.
  3. Sollte indes mal ein Team all diese beinahe unüberwindbaren Hürden genommen haben, spätestens dann schlagen verschiedene Bias-Effekte zu:
    • Erstens suchen sich die Teams nur diejenigen Bewerber raus, die genauso ticken wie sie. Hm, gerade frage ich mich: Wieviele wirklich heterogene Vorstände gibt es eigentlich? Aber lassen wir das. Wären Teams durch die Profis weitflächig heterogener besetzt, wäre es ein Argument für die Kritiker. Aber all die individuellen, heterogenen, garantiert völlig buzzwordfreien Stellenanzeigen belegen wohl kaum die Überlegenheit der Profis.
    • Des Weiteren wollen die Teams nicht das eigene Ansehen gefährden und suchen sich nur die in diesem Sinne passenden Kolleg*innen. Und wieviele HR Profis und Vorgesetzte entscheiden sich für kritische Querdenker, die auch die Führung sowie grundlegende Aspekte der Organisation in Frage stellen?
    • Last not least: Die Teammitglieder sind keine langjährig ausgebildeten Psychologen, deshalb erliegen sie den Bias-Effekten ungeübter Menschen. Zum Beispiel dem Halo Effekt, indem sie von ein, zwei positiven Eigenschaften auf eine insgesamt gute Eignung schließen.

Das alles sind ganz offensichtlich unlösbare Probleme! Die HR-Mitarbeiter*innen sind nicht ersetzbar. Und schon gar nicht ihr unfassbar professioneller Beitrag in der Besetzung von Stellen. Was wir wiederum an Ergebnissen wie dem Gallup Engagement Index, dem DGB Index Gute Arbeit und anderen Studien sehen (Vgl. Zeuch, A. (2015): S. 13-25). Die HR-Abteilungen haben bisher echte Genies eingestellt, die allesamt hervorragende Arbeit leisten und dauerhaft bestens motiviert sind. Falls nicht, so lag das nur und ausschließlich an den lausigen Bewerber*innen.

Summa summarum: Es gibt Alternativen zum bisherigen, seit Jahrzehnten im Kern gleichen Vorgehen. Und es gibt Argumente, warum es sinnvoll ist, neue Kolleg*innen nicht mehr fremdbestimmt zu rekrutieren.

Herzliche Grüße

Andreas

 

Über den Autor

Dr. Andreas Zeuch begleitet seit 2003 Organisationen auf dem Weg zu selbstbestimmter Arbeit. 2015 veröffentlichte er sein letztes Buch „Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten“ und im März 2018 gründete er priomy, die Plattform für selbstbestimmte Arbeit.

 

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